Ministerin lässt sich Orte des NSU in Chemnitz zeigen

(aus der FREIE PRESSE )

Die Terrorgruppe hat im Heckert-Gebiet das Leben im Untergrund geplant und mit Überfällen Geld versorgt. An die Geschichte soll ein Gedenkort im Zentrum erinnern.

Dass im Raum Chemnitz und Zwickau eine der schlimmsten Mord-Serien in der deutschen Nachkriegsgeschichte geplant wurde, scheint heute unvorstellbar. Bei einem „Critical Walk“ durch das Heckert-Gebiet wird diese Geschichte erzählt, genau an den Orten, an denen Mitglieder der NSU-Terrorgruppe wohnten, rechtsextreme Gruppen trafen oder Geld durch Überfälle erbeuteten.

An einer dieser Spurensuche des Vereins ASA-FF hat am Donnerstag Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) teilgenommen. Die Orte sind als solche heute nicht mehr zu erkennen. Im jetzigen Tierasyl an der Johannes-Dick-Straße war früher der Jugendclub „Piccolo“. Dort trafen sich Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe mit Chemnitzer Neonazis. Auch viele Jugendliche sollen immer mit dabei gewesen sein. Projektleiterin Arlo Jung erzählt, dass die Sozialarbeiter anfangs versucht hätten, zumindest das Hausrecht durchzusetzen. Die Szene habe sich daraufhin draußen getroffen, es gab Bürgerbeschwerden und alle kamen in den Jugendklub zurück – nach dem Motto: Hauptsache Ruhe im Wohngebiet. „Jeder pädagogische Ansatz wurde ausgehebelt.“

Acht Raubüberfälle in Chemnitz

Weitere Stationen des Rundgangs waren die Wohnung des NSU-Trios an der Wolgograder Allee und eine frühere Postfiliale. In Chemnitz sollen Mitglieder des NSU acht der insgesamt 15 Raubüberfälle verübt haben, um Geld für das spätere Leben im Untergrund zu beschaffen.

Katja Meyer erzählte, dass sie ebenfalls in einer solchen Neubauwohnung in Zwickau aufgewachsen sei. Die Wohnungen seien hellhörig, man bekomme etwas mit. „Hier sieht man, wie gefährlich es ist, wenn nichts unternommen wird, weil Leute wegschauen oder Angst haben.“

Chemnitz ist der einzige Ort in der Geschichte des NSU, an dem es bisher keinen Ort des Gedenkens gibt. Der ASA-FF will deshalb einen solchen Ort schaffen. Die Erarbeitung eines Konzeptes wurde vom Freistaat Sachsen unterstützt. Für Katja Meier ist für die Realisierung die Einbeziehung der Hinterbliebenen wichtig. Der ASA-FF wünscht sich, dass der Gedenkort im Zentrum entsteht. Bis es soweit ist, wird der Verein den „Critical Walk“ regelmäßig anbieten, das nächste Mal am 26. August. Für die Kulturhauptstadt ist außerdem ein Dokumentationszentrum zu NSU in Chemnitz geplant.


Jens Eumann

NSU: Ein Doku-Zentrum in Chemnitz, damit die Wahrheit nicht untergeht – oder geschreddert wird

Als Chemnitzer Standort für ein NSU-Dokuzentrum schlagen Vereine eine Fabrik vor. Die liegt nah dem samt NSU-relevanten Akten schon in Chemnitz-Fluten versunkenen Strafarchiv. Die Flutgefahr haben die Planer aber im Blick. Die drängendere Frage ist: Wie unabhängig ist die NSU-Forschung, wenn der Staat sie finanziert?

Manchmal wird der Umfang von Strafakten nicht in der Anzahl ihrer Ordner gemessen, sondern in Litern. 2002 war das so und 2010 – konkret als die Hochwasserereignisse dieser Jahre das Archiv der Staatsanwaltschaft Chemnitz fluteten. Es lag im Keller des Gebäudes Annaberger Straße 79 gleich gegenüber dem Chemnitzfluss. Im Jahr 2010 wurden „70.000 Liter an Akten entsorgt“. Das schrieb sechs Jahre später der damalige sächsische Justizminister Sebastian Gemkow (CDU). Der Abtransport sei in Behältern zu je 350 oder 450 Litern erfolgt. Gemkow antwortete 2016 auf eine parlamentarische Anfrage. Hintergrund war die Erkenntnis, dass sich unter den zerstörten Akten das Strafregister des Zwickauer Rechtsextremisten Ralf Marschner befand. Im Zuge der Ermittlungen zum Terrorkomplex „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) erlangten diese Akten Brisanz.Was wusste der V-Mann „Primus“?

Zum einen hatte ein „Freie Presse“-Artikel zu Beginn der NSU-Ermittlungen die spätere Enttarnung des Neonazi-Szenekopfes als langjähriger Spitzel des Bundesamtes für Verfassungsschutz angeschoben. Zum anderen hatte ein Rechercheteam um die „Welt“-Autoren Dirk Laabs und Stefan Aust später entdeckt, dass Ralf Marschner alias V-Mann „Primus“ zwei der über Jahre in Zwickau abgetauchten NSU-Terroristen offenbar nicht nur gekannt hatte. Er hatte sie in seinen Firmen wohl sogar beschäftigt. Unter seinem Tarnnamen Max-Florian Burkhardt jobbte Uwe Mundlos in einer Baufirma Marschners. Ob Beate Zschäpe in einer Boutique Marschners gearbeitet oder dort nur regelmäßig Zeit verbracht hatte, wurde nie ganz aufgeklärt. Doch kein Wunder, dass der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages sich die Personalie Marschner erneut vornahm.

„Schon seltsam, dass sich die reißenden Wasser gerade dieses Schriftstück ausgesucht haben“, grübelte die im NSU-Ausschuss tätige Grüne Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic, als die Chemnitzer Staatsanwaltschaft den Verlust der Akte meldete. Natürlich habe sich das Wasser nicht „ausgerechnet“ eine Akte ausgesucht, stellte Sachsens Justizminister Gemkow klar. Das Wasser habe 600 laufende Meter an Akten verschlungen. All jene, „die sich in den untersten Regalfächern befanden“. Nach der Überflutung des Archivs bis auf 1,20 Meter Höhe seien diese Akten nicht mehr lesbar gewesen. Nachdem das Strafarchiv 2002 erstmals überflutet worden war, hatte man den Keller nachgerüstet. Aber nicht ausreichend, wie die erneute Überflutung 2010 offenbarte. Nach der zweiten Flut sei das Archiv verlagert worden.

Flut fraß Akten auch anderer NSU-Helfer

Kerstin Köditz, Rechtsextremismus-Expertin der Linken im Sächsischen Landtag, mutmaßte, dass mehr als 1000 Einzelbände verloren gingen. Die Aufklärung im NSU-Komplex werde „erheblich erschwert“, klagte sie, zumal sich unter den vernichteten Akten auch einige zu Chemnitzer NSU-Unterstützern befunden hätten, etwa zu den Rechtsextremisten Jan W. (mutmaßlicher Beschaffer der ersten Schusswaffe des NSU-Trios) und Thomas S. (geständiger Sprengstoff-Beschaffer und Koordinator des Chemnitzer Unterstützer-Netzwerks).

In einer Machbarkeitsstudie für das Millionenprojekt eines Dokumentationszentrums zum NSU-Komplex schlagen die Autoren der Studie als Chemnitzer Standort nun eine historische Fabrik vor. In Luftlinie liegt die nur 100 Meter von den damals gefluteten Archiven der Staatsanwaltschaft entfernt. Mit einer weiteren Panne im NSU-Fall hat diese Standortwahl aber nicht zu tun. Immerhin hat die Ruine der früheren Handschuh- und Strumpffabrik Heidenheim, Oppenheim und Co. an der Bruno-Salzer-Straße über dem Keller noch fünf Obergeschosse. Die Flutgefahr haben die Planer im Blick. „Ein Risiko ist die unmittelbare Nachbarschaft zum Fluss Chemnitz: Am Standort selbst ist bei einer hundertjährlichen Hochwasserlage mit Pegelständen von 0,5 bis zu 1 Meter zu rechnen.“ So schrieben die von den Vereinen RAA Sachsen und ASA FF stammenden Macher der Studie fürs Dokuzentrum.

Perspektive der Opfer soll Dokuzentrum prägen

Dennoch sei „die Lage günstig“. Stadtkernnah, Bus und Bahn vor der Tür. Schließlich soll das Dokumentationszentrum „ein Ort werden, an dem sich viele Menschen beteiligen können“, schreiben die Macher. Das Zentrum soll den Spagat schaffen, die Perspektive der Opfer rechter Gewalt zu würdigen, und fortdauerndes wissenschaftliches Aufarbeiten der vielen noch offenen Fragen im Terrorkomplex zu fördern. Die Vereine wollen Angehörige der NSU-Mordopfer und Überlebende des NSU-Terrors wie auch generell Betroffene rechter Gewalt als „zentrale Partizipierende“ verstanden wissen. „Lernen aus dem NSU-Komplex bedeutet, Betroffenenperspektiven in das Zentrum zu rücken und solidarische Allianzen mit Betroffenen zu bilden“, heißt es im Konzept.

Dass sich die Forderung, weiter aufzuarbeiten, mit der Opferperspektive gerade bei NSU-Hinterbliebenen überschneidet, macht Yvonne Boulgarides klar. Sie ist die Witwe des Münchner NSU-Mordopfers Theodoros Boulgarides. Gegenüber der „Freien Presse“ kritisierte sie: „Wo bleibt die lückenlose Aufklärung? Wo bleibt all das, was uns versprochen wurde?“ Im Gespräch erneuerte die Witwe ihre Kritik, die sie schon in der Plädoyerphase des NSU-Prozesses mit einer bewegenden Rede im Gerichtssaal laut gemacht hatte.

Die „Aktion Konfetti“, über die keiner lachte?

„Warum wurden trotz laufender Ermittlungen immer wieder Tausende von Aktenseiten geschreddert? Warum wurden zahlreiche V-Personen und mutmaßliche NSU-Unterstützer bis heute nicht angemessen vernommen? Wo sind all die, die durch ihr fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln diese Verbrechen ermöglicht haben? Warum haben sie keine Konsequenzen zu befürchten? Warum werden sie sogar aktiv vor Strafverfolgung geschützt? Es wäre die Aufgabe der entsprechenden Staatsorgane gewesen, der Wahrheitsfindung zu dienen. Leider muss ich an dieser Stelle von einem kompletten Organversagen sprechen“, sagte Yvonne Boulgarides.

Einer, den die Witwe damit direkt anspricht, ist Lothar Lingen (Tarnname), Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Zu Beginn der NSU-Ermittlungen hatte er V-Mann-Akten vernichten lassen, wofür BfV-Präsident Heinz Fromm bei Bekanntwerden zurücktreten musste. Weil das Schreddern am 11. November 2011, also zum Karnevalsauftakt, begann, bekam Lothar Lingens Order später den Spitznamen „Aktion Konfetti“. Dabei war weniger der Karneval ihr Auslöser als Verschleierung: Nur Stunden zuvor hatte die Bundesanwaltschaft verkündet, in dem immer weiter ausgreifenden NSU-Fall die Ermittlungen zu übernehmen.

Geheimdienste bedrohten Aufklärer

Andere Personen, die später Geheimdienstinformationen preisgeben wollten, wurden bedroht – mit dem Strafrecht: Geheimnisverrat sei das, hieß es aus dem nach Fromm von Hans-Georg Maaßen geführten BfV. Yvonne Boulgarides hat dazu eine klare Position: „Geheimnisse, die dazu dienen, Verbrechen und desaströses Fehlverhalten zu vertuschen, sind nicht schützenswert!“

Eine unabhängige Instanz, die den im NSU-Komplex noch offenen Fragen nachginge, wäre also eine Bereicherung. Denn offene Fragen gibt es zuhauf. Obwohl es in Sachen NSU mit 14 Untersuchungsausschüssen ein in der Republik noch nie dagewesenes Ausmaß an parlamentarischer Aufklärung gab. Je zwei Ausschüsse bildete man im Bundestag, in den Landtagen von Sachsen, Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern, sowie je einen in Hessen, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern.

Was fehlt, ist ein Gesamtüberblick

Der Satz der Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic zum Aktenverlust in Sachsen macht aber deutlich, warum eine zentrale forschende Instanz dennoch wichtig ist. Weil die parlamentarische Aufklärung an unterschiedlichen Enden, in verschiedenen Bundesländern – mochte sie auch vernetzt gewesen sein – keinen Komplettaustausch aller Erkenntnisse sicherstellte. So gut wie nirgends herrscht ein Überblick über sämtliche Stränge des Falls oder über örtliche Gegebenheiten anderswo. Nur so konnte die durchaus um Aufklärung bemühte Grüne Abgeordnete Mihalic, vormals selbst Polizistin, vom grünen Tisch in der Ferne aus argwöhnisch spotten, die Flut habe sich „gerade“ diese eine Akte geholt. Ihr fehlte der Blick auf die Chemnitzer Fluthistorie, unter vielem anderen. Problematisch ist das, weil es bei der Fülle seltsamer Spuren – viele davon zu Geheimdiensten, manche davon bis ins Ausland – weil es bei all diesen Spuren nicht noch Verschwörungsmythen braucht, die schlicht auf Missverständnissen beruhen. Sie vernebeln den Blick fürs Wesentliche.

Nicht noch mehr Protokolle, sondern Analyse von Fakten und Trugspuren

Beim Erscheinen des fünfbändigen NSU-Prozess-Buchs der „Süddeutschen Zeitung“ beschrieben Dirk Laabs und Stefan Aust in der „Welt“, was man das Protokoll-Dilemma nennen könnte. Tenor: Was es braucht, sind nicht Tausende weiterer Seiten protokollartiger Texte. Es braucht eine Analyse des vorhandenen Materials. Und das so weit möglich mit umfassendem Überblick. Immer mehr scheint wichtig, NSU- wie auch Geheimdienstverbindungen zwischen Bundesländern zu prüfen, Zusammenhänge zu erkennen. „Es gibt viel zu viele, oft widersprüchliche Informationen und Aussagen“, schrieben Laabs und Aust in der „Welt“. „Im Idealfall kommen genau da die Journalisten ins Spiel – sie könnten die Schilderungen vergleichen, die Informationen verdichten, um am Ende die Erkenntnisse, aber auch die verbleibenden Fragen klar zu benennen. Aber genau das passierte im Falle des NSU-Komplexes nur selten.“

Der Lügner mit den zu langen Beinen

Da der Fokus des Prozesses schon in der Anklageschrift „zu eng gefasst“ war, habe schnell auf der Hand gelegen, „dass die Hintergründe des NSU-Komplexes dort nicht deutlich werden würden. Trotzdem berichteten einige Redaktionen nur über den Prozess in München“. Und eben nicht über die Vielzahl an Ausschüssen. „Die reine Protokollierung ist keine Leistung, die im NSU-Komplex noch gefehlt hätte“, kritisierten Laabs und Aust. „Die Ausreden des Verfassungsschützers Andreas Temme etwa, der bei einem Mord des NSU am Tatort war und sich schon vor dem Bundestag in Lügen verstrickt hatte, werden in den Bänden fragmentarisch protokolliert, aber in dem Text nicht als das benannt, was sie sind: Lügen. Was unweigerlich die Frage aufwerfen würde: Warum wird gelogen?“, urteilen die beiden Autoren des Buches „Heimatschutz – der Staat und die Mordserie des NSU“. Bei Vorstellung ihres eigenen rund 900 Seiten starken Wälzers im Jahr 2014 verriet Stefan Aust, das spannendste seien dessen 800 noch nicht geschriebenen Seiten.

Kostenrahmen fürs Zentrum hat Tücken

Unabhängige Aufklärung tut also Not – doch Unabhängigkeit bei einer Finanzierung, die en gros von Bund und Land kommen soll, kann das funktionieren? Immerhin – die Studienmacher klotzen in ihrem Machbarkeitskonzept. Bei 42 Vollzeitstellen rechnen sie einen Personalkostenrahmen von 2,75 Millionen Euro aus.

Die Studie der möglichen Träger stelle den „angestrebten Idealzustand“ dar, sagt Christina Wittich, Sprecherin des Sächsischen Ministeriums für Justiz und Demokratie. Stellenplan und Finanzrahmen hingen von kommenden sächsischen Haushalten, aber auch von Entscheidungen auf Bundesebene ab. All das sei „nur sehr schwer zu prognostizieren“, sagt Wittig. Doch werde das Ministerium Stadt und Träger „nachhaltig dabei unterstützen, eine der Würde der Opfer und der politischen Bedeutung dieses Komplexes gerecht werdende wirkungsvolle Einrichtung mit allen genannten Aspekten zu erreichen und dauerhaft zu betreiben“, so die Sprecherin.

„Politische Bildung bedeutet immer, dass in Demokratie investiert wird. Die beantragten Mittel werden aus unserer Sicht sinnvoll und effektiv eingesetzt“, sagt Wittig.